Ein ganzheitliches Verständnis des Menschen
Kritische Würdigung des Beitrags der Astrologie
Vortrag anläßlich des Jubiläumskongresses "50 Jahre DAV"
in Heidelberg unter dem Motto:
Astrologische Perspektiven für ein ganzheitliches Verstehen des Menschen
Wenn wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam.
Wir glauben, in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein,
und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen,
gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen
nicht mehr dem Meere, dem er entstammt.
Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben,
und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen,
haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht;
und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.
Sie kennen vermutlich alle das Gefühl, aus einem Traum aufzuwachen und
zu spüren, wie sich der Inhalt des Traumes Ihrem Zugriff entzieht. Nicht jeder
Traum ist so: Manche Träume sind beeindruckend "realistisch", auch wenn sie
selbst dann noch wie Filme wirken, bei denen die "Zensur" dazu führte, daß
nach dem Schneiden gewisse Brüche im Handlungsablauf vorhanden sind. Doch
es gibt Träume, da spürt man während des Erwachens, wie bei dem Versuch,
den Inhalt des Traumes festzuhalten, ihn ins Wachbewußtsein ...[TEXT-FEHLT]...
auch, weil es dafür keine Worte gibt. Wenn wir den Traum dann erzählen, spüren
wir deutlich, daß etwas fehlt. Selbst vieles von dem, was wir erinnern, können
wir nur unzulänglich in Worte fassen: eine Schwingung in uns, eine
Atmosphäre, ein bestimmter Geruch oder Geschmack, eine unwirklich klingende
Melodie. Sogar die konkret anmutenden Abläufe, das, was man als Handlung zu
erinnern meint, war im Traum nicht so platt, wie das, was wir nun in Worte
fassen können: die Handlung schien in unserem Gefühl von einer viel
größeren Bedeutungsdichte, jedes Traumelement schien auf so unendlich viel
zu verweisen.
Interessanterweise wird das, was wir nicht in Worte fassen können, mit der
Zeit blasser und zurück bleibt mehr und mehr eine Art Skelett, das zudem,
so ist meine Erfahrung, je öfter wir es erzählen, immer mehr von
Ungereimtheiten und logischen Brüchen gereinigt wird. Und meine Erfahrung
als Therapeut ist, daß meist erst in diesem Stadium für den Träumer so etwas
wie eine Bedeutung des Traumes zugänglich wird, daß er erst in diesem
Stadium beginnt, seinen Traum zu verstehen.
Aber was bedeutet es, einen Traum zu verstehen?
Meine sehr verehrten Damen und Herren
Liebe Kolleginnen und Kollegen
Ich kann Ihnen versichern: Ich weiß nicht, wovon ich rede - und das macht
die Sache auch für mich sehr spannend. Ich muß sogleich einen Satz
hinzufügen, da ich mit Ironie in meinen Vorträgen schlechte Erfahrungen
gemacht habe. Offensichtlich kennzeichne ich sie nicht deutlich genug. Aber
wie sollte ich auch, wo das Ironische doch fließend in das übergeht, das
ich wirklich meine.
Ich bin auf der Suche nach etwas. Ich möchte heute zu Ihnen über
etwas sprechen, daß ich nicht kenne (oder noch nicht kenne, vielleicht) und von
dem ich nicht weiß, ob es existiert: Es ist das, worauf wir uns beziehen,
wenn wir über Menschen sagen, wir verstehen sie. Nennen wir es: Das Wesen
des Menschen.
Ich wäre nicht so unbescheiden gewesen, mir für einen 40minütigen Vortrag
ein solches Ziel zu stecken, wenn das Motto dieses Kongresses und mein an
dieses Motto angelehnte Vortragsthema mich nicht dazu zwingen würden: Wie
soll ich den Beitrag der Astrologie zu einem ganzheitlichen Verständnis des
Menschen würdigen, wenn ich nicht weiß, was ich unter einem ganzheitlichen
Verständnis des Menschen verstehen soll?
Ja, in der Tat: Ich wollte anfangs einen vermutlich absolut langweiligen
Vortrag halten und der Astrologie eine Note geben (natürlich eine gute,
schließlich haben wir Jubiläum), eine Note für das, was sie Wertvolles
beiträgt zu einem ganzheitlichen Verständnis des Menschen. Am Anfang dachte
ich auch wirklich, ich wisse es (in etwa ...). Doch als ich zu formulieren
begann, wurde ich mehr und mehr zu einem Suchenden: Zusammenhänge, die mir
klar erschienen waren, wollten sich nicht in klare Sprache fügen. Was
sollte ich tun? Die Programmhefte waren gedruckt und mein Thema stand somit
fest.
Da der DAV jetzt immerhin 50 Jahre alt wird, und ich in zwei Jahren
ebenfalls 50 Jahre alt werde, und da ich ja auch nicht Vorsitzender des DAV
bin und somit der Pflicht, den DAV und die Astrologie vor Unbill zu
bewahren, nicht unterliege, entschied ich mich, in einer Art Experiment,
mich auf meine Unwissenheit einfach mal einzulassen. Mehr noch: Ich
entschied mich, Sie an meinen Gedanken teilhaben zu lassen, bevor sie
kristallisiert sind, wie das Skelett eines Traumes, meine Gedanken in einer
Form zu belassen, in der die logischen Brücken zwischen den einzelnen
Clustern noch brüchig sind und damit verräterisch , wie es Assoziationen
nun mal sind. Und ich entschied mich, mich Ihnen damit anzuvertrauen.
Am meisten Angst habe ich dabei, um ehrlich zu sein, vor Ihrer Zustimmung.
Warum? - Nun, ich will es am schlimmstmöglichen Fall demonstrieren:
"Endlich, Herr Niehenke, haben Sie eingesehen, daß Ihr
rational-wissenschaftlicher Zugang unangemessen ist."
Wir werden sehen.
Erlauben Sie mir, Ihnen zu Beginn einen unanständigen Witz zu
erzählen. Er wurde im Samstagsabend-Familien-Programm der ARD erzählt und soll von einem
12jährigen Jungen eingeschickt worden sein, und selbst Bayern hat sich
nicht aus dem gemeinsamen Programm der ARD ausgeklinkt, wie es das ja
zuweilen bei moralisch problematischen Sendungen zu tun pflegt: Ich meine,
daß der Witz daher als "unbedenklich" gelten kann. Sicherheitshalber möchte
ich auch den möglicherweise aufkommenden Verdacht zerstreuen, ich würde
diesen Witz nur erzählen, um Sie zu erheitern . Ich weise Sie deshalb
darauf hin, daß er ein grundlegendes erkenntnistheoretisches Problem
treffend veranschaulicht ...
Fritzchen geht mit seiner Mama am FKK-Strand spazieren.
"Mama", fragt er, "warum haben denn manche Frauen einen größeren Busen als
andere?"
"Je reicher eine Frau ist, um so größer ist der Busen", erklärt die Mama.
"Und warum haben manche Männer einen größeren Piepmatz als
andere?"
"Je schlauer ein Mann ist", erklärt die Mama, "um so größer ist ihr
Piepmatz."
Nach einer Weile kommt Fritzchen zur Mama gelaufen, die sich in der Sonne
räkelt, und berichtet ihr:
"Mama: Der Papa liegt da hinten mit einer ganz reichen Frau und wird immer
schlauer."
Es ist faszinierend zu beobachten, wie Kinder mit sog. Erklärungen
umgehen, also mit Antworten der Erwachsenen auf ihre Warum-Fragen.
"Papa", fragt der griechische Knabe seinen Vater, "woher
kommen die Blitze
bei einem Gewitter?"
"Das sind die Pfeile des Gottes Zeus", antwortet der Vater, "er wirft sie,
wenn er zornig ist." Und in aller Regel gibt sich der Knabe mit dieser
Antwort zufrieden und gibt sie später seinem Sohn weiter.
Dreitausend Jahre später antwortet ein Nachfahre auf die gleiche Frage
seines Sohnes:
"Das sind elektrische Entladungen, mein Junge. Du hast bestimmt schon
einmal Blitze an den Oberleitungen von Eisenbahnzügen oder Straßenbahnen
gesehen. Auch das sind elektrische Entladungen."
Auch hier gibt sich der Knabe vermutlich mit der Antwort zufrieden, obwohl
ich bezweifle, daß der Papa selbst in einem dieser beiden Fälle seine
eigene Erklärung verstanden hat. Mag sein, daß der Papa elektrische
Entladungen von seiner Arbeit her kennt, mag sein, daß er ihre Stärke sogar
berechnen kann, aber ob er versteht, was Elektrizität ist?
"Papa, warum haben manche Menschen so viel Glück im Leben und
warum geht es
anderen Menschen so schlecht?"
"Wenn jemand in seinem vorherigen Leben Böses getan hat, dann geht es ihm
in diesem Leben schlecht. Du kannst Dir das so vorstellen, daß er in seinem
letzten Leben Schulden gemacht hat, und die muß er in diesem Leben
abbezahlen."
Jesus soll gesagt haben: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder,
könnt ihr in das Himmelreich nicht eingehen. "
Wie wahr!
Was bedeutet es, etwas zu verstehen?
Obwohl es reizvoll für mich wäre, dieser Frage anhand meines
zuletzt gegebenen Beispiels einer "Erklärung" nachzugehen, werde ich dieser
Versuchung widerstehen, um der Gefahr eines zu großen Umwegs bei meiner
Suche nach dem "Wesen" des Menschen zu entgehen.
Nehmen wir also lieber ein anschaulicheres Beispiel. Es hat den Vorteil,
weniger Emotionen aufzurühren und weniger kontrovers zu sein. Das ist aber
leider auch sein Nachteil.
[Picture Atommodell] Das Bohr'sche Atommodell
Die Frage, woraus die materielle Welt im letzten denn nun bestehe, hat
nicht nur die Philosophen seit der Antike bewegt, sie bewegt, wie ich aus
eigener Erfahrung und auch Erinnerung weiß, schon manche Schulkinder. Sie
bewegte auch mich als 14jährigen Schüler sehr, der erstmals im
Chemieunterricht mit dem Periodischen System der Elemente und dem sog.
Bohr'schen Atommodell in Kontakt kam. Ich weiß noch sehr genau, wie ich
damals, sehr erregt, meinen Chemielehrer im Anschluß an die
Unterrichtsstunde fragte, woraus denn nun die Protonen und Elektronen
selbst bestehen würden, nachdem er uns erklärt hatte, daß alle Stoffe, die
wir kennen, aus Atomen und diese wiederum aus Protonen, Neutronen und
Elektronen bestünden. Die Frage war ja naheliegend. Mein Chemielehrer
damals konnte es mir aber dennoch nicht erklären: Er sagte, diese Teilchen
seien aus "Urstoff" (und ich spürte, daß da etwas nicht stimmen konnte).
Heute finden die Physiker immer mehr immer kleinere Teilchen, aus denen die
"kleinsten Teilchen" der Materie wiederum bestehen. Aber wie klein die
Teilchen auch immer werden: Auch sie müssen doch, so unsere Vorstellung,
aus irgendeinem Stoff bestehen. Alle Schüler, die darauf angewiesen sind,
sich etwas vorzustellen, die "Anschaulichkeit" benötigen, um etwas in sich
aufnehmen, etwas lernen zu können, kommen an dieser Stelle in große
Schwierigkeiten. Die Frage, aus welchem Stoff denn nun die wirklich
kleinsten Teilchen der Materie bestünden, läßt sich nämlich nicht
beantworten, weil sie, so merkwürdig dies jetzt klingen mag, von einer
falschen Voraussetzung ausgeht:
Sie geht von der Voraussetzung aus, daß Elementarteilchen "im
Kleinen" etwas Ähnliches sind wie vielleicht ein Sandkorn "im Großen", daß sie also
z. B. eine bestimmte Größe haben und sich an einem bestimmten Ort
aufhalten, wie dies für jedes materielle Objekt gilt. Tatsache aber ist,
daß im Bereich der Elementarteilchen die Vorstellung von einem begrenzten
Stück "Materie" an einem bestimmten "Ort" keinen Sinn macht.
Das macht sich in der Sprache der Physiker bemerkbar, die vom Elektron
sagen, seine Masse sei über seine ganze Bahn "verschmiert". (Das eine
Elektron ist also an allen Stellen seiner Bahn gleichzeitig.) Das macht in
unserer Vorstellung (von einem Materieteilchen) keinen Sinn.
Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir ein anderes Modell zur Hilfe nehmen:
Denken Sie einmal an eine Schallwelle. Die ist auch nicht an einem
bestimmten Ort sondern überall im Raum gleichzeitig. Ein Ton ist im ganzen
Raum. So oder so ähnlich ist das auch mit der Materie: Im "Größen"-bereich
der Elementarteilchen verhält sich Materie, als wäre sie etwas wie ein Ton,
genauer: wie eine Welle. (Eine Welle ist überall.)
Der Physiker spricht vom Welle-Teilchen-Dualismus der Materie und, analog
zu den Lichtwellen, von Materiewellen. Materie verhält sich eben zum einen
Teil so, als bestünde sie aus Teilchen (mit einer bestimmten Masse und
einem bestimmten Ort), zum anderen Teil (korrekterweise müßte man sagen: in
einer anderen Art von physikalischen Messungen bzw. Experimenten), als wäre
sie eine Wellenerscheinung.
Wenn Sie Materie immer weiter teilen, dann stoßen Sie also nicht auf
Atome, auch nicht auf Elementarteilchen, auch nicht auf den "Urstoff" meines
Chemielehrers: Sie stoßen auf etwas "Immaterielles", nämlich auf
elektromagnetische Schwingungen (Wärme, Licht, Röntgenstrahlen - je nach
Wellenlänge). Licht, also eine Welle, ist direkt in Materie verwandelbar:
Bestimmte Elementarteilchen können aus energiereicher Strahlung (wie Licht
eine ist) spontan "entstehen" und sich, umgekehrt, auch wieder in Licht
verwandeln .
Lassen Sie mich den Verfasser eines Physik-Lehrbuchs für Gymnasiasten,
Oskar Höfling, zitieren:
"Man vergaß, daß das anschauliche Bohr'sche Atommodell mit
seinen Elektronenbahnen nicht als ein Abbild der Wirklichkeit gewertet werden
durfte, sondern daß es sich um eine Gedankenkonstruktion der Physiker
handelte. Das Bohr'sche Atommodell erfreute sich besonderer Beliebtheit,
weil es dem menschlichen Bedürfnis nach Anschaulichkeit der
Modellvorstellungen von der Natur in hohem Maße gerecht wurde. Besonders
anschaulich erscheinen uns nämlich die Vorgänge der Mechanik. Die
Zurückführung aller Erscheinungen auf mechanische Modelle war das erstrebte
Endziel der klassischen physikalischen Forschung.
Wir haben früher darauf hingewiesen, daß die mechanischen
Modellbetrachtungen große Fortschritte für die Naturerkenntnis gebracht
haben. Wir haben aber auch erkannt, daß diese Modelle nicht das Wesen der
durch sie dargestellten Erscheinungen sind, sondern daß es sich um
Hilfsmittel handelt, die es erleichtern, gedankliche und rechnerische
Überlegungen anzustellen.
Am Beispiel des Lichts haben wir früher erkannt, daß es bisweilen
zur vollständigen Erfassung einer Erscheinung notwendig ist, nebeneinander
verschiedene Modelle (beim Licht: Welle und Teilchen) zu verwenden, die für
das menschliche Anschauungsvermögen nicht miteinander vereinbar sind. Wir
mußten uns mit der Tatsache abfinden, daß Licht weder einer Wellenbewegung
noch ein Strom von Teilchen ist, sondern etwas,
das sich der anschaulichen Beschreibung durch den menschlichen Geist
entzieht
und sich bisweilen so verhält wie eine Welle und ein anderes Mal wie ein
Teilchen."
Aus diesem Zitat wird deutlich, daß Physiker nicht angeben können,
was Materie ist. Sie machen sich möglichst anschauliche Modelle von Vorgängen
in der Natur, und solange die Meßergebnisse im Einklang mit diesen
Modellvorstellungen stehen, gilt dieses Modell vorläufig als "richtig".
Verzeihen Sie mir bitte, daß ich sie so lange mit Physik gelangweilt habe.
So abstrakt diese Gedanken für viele von Ihnen erscheinen mögen: Sie
sollten etwas noch viel Abstrakteres veranschaulichen:
Wenn wir etwas verstanden haben (ich sollte besser sagen: verstanden zu
haben meinen), dann ist das immer, wie jetzt vielleicht ein wenig deutlich
geworden ist, zugleich eine Erweiterung wie auch eine Verengung unserer
Horizonts. So paradox es klingt: Etwas zu verstehen verengt auch unseres
Horizont! Mit jedem Verstehen grenzen wir ein Phänomen immer auch ein (auf
das "Verstehbare", auf den heute und durch uns "verstehbaren Teil" des
Phänomens).
Viele von uns werfen den Wissenschaften gern vor, sie seien
"reduktionistisch" und wir stellen einem solch "reduktionistischen
Verständnis" des Menschen anläßlich dieses Kongresses ein "ganzheitliches
Verständnis" des Menschen gegenüber. Wir sehen dabei nicht:
Jedes "Verstehen" ist immer reduktionistisch.
Verzeihen Sie mir bitte diesen kleinen Gedankensprung, aber: vielleicht
wird auch Ihnen aus diesem Grunde das Gebot: "Du sollst Dir kein Bildnis
machen", verständlich.
"Ach wie schön, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstielzchen heiß!"
Ich möchte einen Satz von Höfling noch einmal wiederholen:
"Licht (und dies
gilt auch für Materie) ist etwas, das sich der anschaulichen Beschreibung
durch den menschlichen Geist entzieht."
Licht und Materie sind wirklich elementare Kategorien, nicht komplexe
selbstorganisierende Systeme, wie es jeder noch so einfache Organismus ist.
Dieses Elementarste des Elementaren unserer Erfahrung, "Stoff",
"Gegenständlichkeit", entzieht sich der anschaulichen Beschreibung durch
den menschlichen Geist.
Wie weit sind wir dann wohl davon entfernt, Leben zu verstehen und was
könnte es in einem solchen Fall bedeuten, den Menschen zu verstehen?
[Bild Horoskopzeichnung] Das Horoskop der Klientin
Die Frau, die da vor mir sitzt, wirkt, trotz ihrer 41 Jahre, zart und
mädchenhaft. Ihr dünnes, dunkles Haar geht ihr knapp bis zu den Schultern.
Ihre Kleidung, von betont einfacher Eleganz und in dezenten Farben,
umstreicht wirkungsvoll ihre mädchenhafte Erscheinung. Ihre grün-braunen
Augen sehen mich freundlich an und sie spricht mit zarter Stimme - und sie
stimmt mir verdächtig oft einfach zu ...
Die meisten meiner Klienten setzen sich auf den langen Teil der Sitzecke in
meinem Praxisraum, dem schwebend leicht wirkenden Ledersessel direkt
gegenüber, den sie für den meinen halten. Obwohl ich den Klienten freie
Wahl des Sitzplatzes lasse, wenn ich sie hineinführe in den Praxisraum,
wählen nur sehr wenige diesen bequemen Ledersessel. - Sie hat sich auf den
kurzen Teil der Sitzecke gesetzt und sitzt mir daher nicht gegenüber
sondern sitzt seitlich zu mir. Das paßt zu ihr.
Erste Evidenzerlebnisse: Aszendent und Mond im Wassermann und die Sonne in
der Waage kann ich gut mit ihr verbinden. Ich habe allerdings einige Mühe,
mit diesem zarten Wesen eine dominante Mond-Pluto-Opposition in Verbindung
zu bringen, und außerdem würde es mir leichter fallen, sie mir als
Augenärztin vorzustellen als ausgerechnet als Fachärztin für Psychiatrie.
Ich bin ja selbst Psychotherapeut und zu meiner Ausbildung gehörten
Praktika in therapeutisch relevanten Institutionen. Ich habe, um ehrlich zu
sein, ein Praktikum in der Psychiatrie immer vermieden. Sie erläutert mir,
daß sie niemals in einer freien Praxis arbeiten könne, wie ich das tue, da
die lächerlichen Probleme der üblichen Neurotiker sie einfach langweilen
würden. Ich verstehe ...
Erlauben Sie mir, verehrte Hörerinnen und Hörer, Ihnen einen
kurzen Ausschnitt aus dem Beratungsgespräch zu zitieren. Ich sollte noch erwähnen,
daß die Klientin mich gebeten hatte, die Konstellationen explizit zu
nennen, auf die ich mich beziehe, damit sie später, wenn sie mal mehr von
der Astrologie verstehen sollte, meine Deutungen nachvollziehen könne. Es
ist eigentlich nicht meine Art, Klienten mit Fachchinesisch zu langweilen
oder zu verwirren, wie es in diesem Ausschnitt aber den Anschein haben
könnte. - Der Gesprächsausschnitt ist übrigens mitten aus der beinahe
dreistündigen Sitzung herausgegriffen:
"Sie haben eine Konjunktion von Saturn und Venus - und dazu fallen mir
Begriffspaare ein wie traurig-schön oder schön-traurig, aber, da diese
Konjunktion sich in Ihrem 8. Feld befindet, auch schauderhaft-schön oder
eben, schön-schauderhaft. Ich denke, da gibt es so eine Mischung: irgendwie
ist das Grauen, oder was andere als Grauen empfinden, das ist irgendwie
auch mit Lust verknüpft."
Sie schaut mich fragend an. - Also formuliere ich es auf andere Weise:
"Sie suchen die Konfrontation mit dem, was andere Menschen schaudern
läßt.
- Es ist zwar auch für Sie schaudern, aber es ist nicht unlustbetont . Der
Schauder - und vielleicht sogar dieses Schaudern angesichts ... des Todes -
der hat einen angenehmen Aspekt für Sie."
Diese Formulierung greift besser: "Ja", sagt sie, "der hat etwas
Ästhetisches, Intensität und Ästhetik."
"Ja, genau, das dachte ich", antworte ich, "Und dann dachte ich:
Ja, aber der Saturn bedeutet auch Angst - besonders mit diesem Quadrat zu Mars. Ich
denke, daß sie den Tod einerseits als im Einklang mit der Natur erleben,
andererseits aber haben Sie auch Angst: Angst vor der Hingabe. Vor der
Hingabe an den Tod und an das Leben, also an beides. In anderen Worten: Sie
sehnen sich (mit Sonne - Neptun) zwar nach Verschmelzung mit der Natur, mit
dem Kosmos - aber nicht mit Menschen. Sie haben Angst vor der Verschmelzung
mit einem Menschen."
"Ja, wo es mir zu konkret wird", antwortet sie.
Ich versuche, die Thematik weiterzutreiben und noch etwas zu vertiefen:
"Ich habe so das Gefühl, die Venus im 8. Feld, das ist die Lust daran,
total zu verschmelzen und der Saturn wird gleichzeitig wach mit seiner
warnenden Stimme - und so könnte ich mir vorstellen, daß Sie konkret schon
durch die Partnerwahl sicherstellen, daß diese Verschmelzung nie total sein
kann. Sie bauen sozusagen eine Notbremse schon von vornherein ein und dann,
sozusagen mit doppeltem Boden, dann lassen Sie sich fallen in diese
Verschmelzung. Sie sind ja, wie Sie im Vorgespräch sagten, sehr
leidenschaftlich dann, aber dieses Fallen - dieses Fallen geschieht mit dem
Hintergedanken: da ist ein Netz, und wenn ich es nicht schaffen sollte zu
stoppen, dann falle ich nie ganz durch."
"Ja, das fängt mich auf", sagt sie, "das ist so eine Art
Sicherheit."
"Ich habe so das Gefühl", ergänze ich noch, "das
ist so eine unbewußte
Kontrolle dagegen, daß Sie sich dabei verlieren könnten."
Sie nickt.
"Sehen Sie", erläutere ich nun, "so schaffen Sie dann
beides: Sie machen so eine zeitlich befristete Verschmelzung. Sie sind so wie jemand, der einen
Kuchen in den Ofen schiebt und die Uhr stellt, und sie wissen: irgendwann
ist die vorgegebene Zeit zuende und dann stellt sich das Ding automatisch
ab. - Sie bauen so eine Art Zeitschaltuhr ein durch die Art der Wahl Ihrer
Partner, indem Sie z. B. verheiratete Männer wählen. Sie stellen auf diese
Weise sicher, daß ein solcher Mann gar nicht die Möglichkeit hat, auf Dauer
mit Ihnen zu verschmelzen, und so haben Sie eine Mischung : Sie haben eine
temporäre Verschmelzung mit Rückversicherung, Rückversicherung, daß es ein
Ende hat."
Sie stimmt zu.
"Aber Sie wollen auf das Erlebnis des Verschmelzens auch nicht verzichten.
Und ich frage mich: Was ist denn das, wovor Sie dabei Angst haben? Da es
eine Jungfrau-Venus ist, dachte ich: Es ist die Angst vor Kontrollverlust.
Sie wollen die Kontrolle nicht verlieren. - Das würde auch zu dem Quadrat
von Mars und Saturn passen."
Sie nickt erneut und ich fahre fort:
"Ich dachte noch einmal an die Psychiatrie, bei dieser
Venus-Saturn-Geschichte: Ich habe gedacht, daß Sie vielleicht bei Verfall -
vielleicht in der Natur - daß Sie in Verfallserscheinungen auch Schönheit
sehen können, daß bestimmte Bilder von Verfall (vielleicht verfallenen
Burgen oder verfallenen Räumen oder Verfallsstrukturen), daß Verfall also
etwas sein kann, dem Sie eine Ästhetik abgewinnen können."
Sie nickt, aber Ihre Zustimmung genügt mir in diesem Fall nicht. Es ist mir
zu abstrakt, was ich da gesagt habe - und ich will mich rückversichern,
weil die Klientin einfach zu viel zustimmt. Ich frage also:
"Wie äußert sich das denn bei Ihnen? Wo konkretisiert es sich?
Sind es mehr Naturverfallserscheinungen oder bezieht es sich auch auf Bauwerke? Was
spricht sie besonders an? Vielleicht auch Verfall bei Menschen? Ich hatte
so gedacht: Immerhin arbeiten Sie in der Psychiatrie?"
Und dann kommt einer der Momente in Beratungen, die mich immer wieder
erneut tief bewegen: Wenn eine Deutung, deren Zutreffen nicht direkt zu
erwarten war, auf solche Zustimmung trifft.
"Überall, überall", sagt sie. "Ich mache sehr gerne
Geronto-Psychiatrie,
also ich mag sehr gerne alte Menschen, bei denen man so sehen kann, wie die
Zeit ihre Spuren hinterlassen hat."
"So hatte ich es gemeint", falle ich ihr ins Wort, und kann den Anflug
von Begeisterung nicht verbergen, "das ist so eine Sensibilität für diese - wie
soll ich es nur ausdrücken? ... für diese eigenartige Ästhetik des
Verwelkens."
"Ich finde das ganz toll , wie Sie das ausdrücken", sagt sie
anerkennend, "ja, das andere langweilt mich eher."
"Ja", versuche ich zu konkretisieren, "wenn es so ganz glatt, so
einfach
nur schön, jugendlich frisch ist."
"Ja", sagt sie, "das ist noch gar kein Leben, da ist noch nichts
Besonderes drin, nichts gewachsen."
"Merkwürdig", werde ich nun nachdenklich, "Leben
kommt für Sie in die Sache
eigentlich erst durch den Hauch des Todes."
"...Ja", stimmt sie zögernd zu, "obwohl es mir eigentlich
um die Auseinandersetzung geht, die jemand investiert hat. Das macht eigentlich
den Wert aus."
"Ich finde das jetzt ganz spannend", sage ich. "Ich höre
Ihnen so zu, wie Sie diese Formulierung "Hauch des Todes" etwas relativieren, und denke bei
mir: Es spricht eben immer der ganze Mensch. Sie hätten das vermutlich
anders formuliert, wenn Sie nur diese Venus-Saturn-Konjunktion im achten
Feld hätten, aber Sie haben es eben mit Ihrem Jupiter am Aszendenten
formuliert. Sie bringen damit so etwas Schützehaftes hinein, etwas im
Zusammenhang mit Werten. Sie geben dem sofort auch eine "Bedeutung", so
eine Lebensbedeutung - mir fällt jetzt nicht die wirkliche treffende
Formulierung ein: vielleicht 'vitale Bedeutung', ja, jetzt hab ich es: Eine
vitale Bedeutung. Es ist fast so, wie wenn Sie den Tod vitalisieren würden.
Wie wenn Sie sagen würden: Der Tod ist eine Lebenskraft. - Auf jeden Fall
etwas Paradoxes, eine paradoxe Formulierung, so empfinde ich das."
"So empfinde ich auch den Tod", sagt die Klientin zustimmend.
"Ja, genau. Da spüre ich jetzt dieses Trigon von dem Saturn in 8 zu
Jupiter
am Schütze-Aszendenten: der Tod bringt Sinn ins Leben."
"Ja", stimmt sie entschieden zu, "das ist richtig. Ohne den Tod
ist überhaupt kein Sinn im Leben."
Welch ein Satz.
Es ist ein immer wieder tief bewegendes Erlebnis, wenn ein Klient sich in
unseren Beschreibungen, die wir aus seinem Geburtsbild ableiten, erkennt,
wenn er uns deutlich macht, daß er sich in seinem Wesen (zumindest in
bedeutsamen Facetten dieses Wesens) verstanden fühlt.
Sie können daher sicher meine Scheu nachfühlen, mich diesem
berührenden Erlebnis mit dem kühlen Instrumentarium des analysierenden Verstandes zu
nähern. Es ist aber, wie auch im Falle der therapeutischen Arbeit mit einem
Traum, wichtig, sich immer wieder erneut daran zu erinnern, daß nicht nur
die Wahrnehmung (im Sinne von Bewußt-Machung) eines Traumes , sondern das
jede Wahrnehmung nur durch Weglassen, durch "Filtern", durch Konzentration
auf "Typisches" möglich ist. Wie wollten Sie sonst in einem Gewirr von
Stimmen auf einer Party die Stimme Ihres Gesprächspartners verstehen. -
Meine Scheu darf mich also nicht daran hindern, mir bewußt zu machen, was
in der Interaktion zwischen mir und meiner Klientin passiert ist.
Ich frage mich also: Was ist eigentlich in diesem bewegenden Ausschnitt aus
einem meiner Beratungsgespräche anderes passiert, als daß ich der Klientin
gesagt habe: "Sie haben eine große Nase!" und die Klientin ihre Nase fühlte
und geantwortet hat: "In der Tat: Ich habe eine große Nase!" Dabei will ich
einmal dahingestellt sein lassen, ob meine Möglichkeiten als Astrologe,
festzustellen, von welcher Form ihre Nase ist, verläßlich sind: In diesem
Vortrag von mir geht es ausnahmsweise ja nicht um die Frage, ob man die
Richtigkeit der astrologischen Regeln beweisen kann, sondern um die Frage,
ob Astrologie eine Hilfe sein kann, sich selbst besser zu verstehen oder
gar "das Wesen des Menschen" allgemein umfassender (ganzheitlicher) zu
verstehen.
Ich habe der Klientin doch eigentlich nur Motive offengelegt, die sie als
die ihren erkannte (zumindest überwiegend), habe ihr bestimmte
Eigenschaften zugeschrieben, mit denen sie sich auch identifizieren konnte.
Ohne Zweifel: Es ist faszinierend, daß dies, abgeleitet aus ihrem
Geburtsbild, überhaupt möglich war. Und möglicherweise besteht ein großer
Teil der Faszination und Begeisterung unserer Klienten nicht so sehr darin,
was wir ihnen sagen, als darin, daß wir ihnen so etwas überhaupt auf der
Grundlage des Geburtsbildes sagen können.
Zuweilen habe ich bei Beratungen genau diesen Eindruck: Die Klienten haben
eine beinahe kindliche Freude, wenn ich ihnen ihr Wesen treffend beschreibe
- auch dann, wenn ich Ihnen gar nichts Neues sage, wenn sie das, was ich
sage, im Prinzip schon wußten. Sie freuen sich einfach darüber, daß es
funktioniert, darüber, daß Astrologie funktioniert.
Ostern 1984 stellte ich am zweiten Astrologie-Weltkongreß in Luzern Teile
der Resultate meiner Dissertation vor. Es waren im Sinne der Astrologie
vollständig negative Resultate. Zum Abschluß meines Vortrags formulierte
ich:
"Ich kann in jedem Fall in Zukunft nicht mehr sagen: "Menschen mit
Sonne-Saturn-Quadrat neigen zu Depressionen" - und ich kann eine ganze
Reihe anderer Sätze dieser Art, die zuhauf in astrologischen Lehrbüchern
stehen, nicht mehr sagen, zumindest nicht mehr mit Recht! Und wenn jemand
behauptet, er könne es noch mit Recht sagen, dann möchte ich gern erklärt
haben, mit welchem Recht, worauf er sich stützt. Und wenn er behauptet, es
sei halt seine Erfahrung, dann ist zu fragen, ob er diese Erfahrung auch
einer kritischen Überprüfung unterzogen hat und zu unterziehen in der Lage
ist. Andernfalls wird Astrologie zu einer Art Religion, zu einer Sache des
Glaubens! - Aber warum nicht!
Um die Astrologie und um ihren Fortbestand auch bei noch mehr negativen
Resultaten braucht man sich aber sicher keine Sorgen zu machen. Eine Welt,
in der Astrologie wahr ist, ist allemal eine schönere Welt als eine, in der
Astrologie nicht existiert. Und dieses Gefühl, sinnvoll in ein kosmisches
Ganzes eingebettet zu sein, vermittelt ein "himmlisches
Geborgenheitsgefühl" - und darauf zu verzichten, fällt sicher gerade uns
heutigen Menschen besonders schwer. Das Bedürfnis, daß Astrologie wahr sei,
ist also viel stärker als alle rationalen Gegenbeweise, dessen bin ich
sicher - und das gilt, mindestens im Moment, auch für mich!"
Diese Sätze habe ich damals sehr ironisch (natürlich vor allem auch
selbstironisch) gemeint - aber, wie ich zu Beginn schon sagte: Ich habe
keine guten Erfahrungen mit Ironie in meinen Vorträgen. Am folgenden Tag
las ich in einer Schweizer Zeitung sinngemäß: "Und so tröstet sich Herr
Niehenke, Präsident des Deutschen Astrologen-Verbandes, über die negativen
Resultate astrologischer Studien hinweg."
Damals konnte ich diese Sätze mit Ironie sagen, weil ich gar nicht absehen
konnte, wie wahr sie sind. Wenn ich die Freude meiner Klienten und meine
eigene Freude sehe, unser gemeinsames Staunen, dann ist mir nicht mehr nach
Ironie.
Ich erinnere mich noch an die ungeheure Faszination, die die Gedanken
Sigmund Freuds in den 50er und 60er Jahren speziell bei den sog.
Intellektuellen auslöste. Ich denke, daß eine Quelle dieser Faszination
war, daß Freud ein Modell anbot, uns in unseren Motiven, emotionalen
Reaktionen und unseren Träumen zu verstehen.
Viele akademischen Psychologen sehen heute in der Psychoanalyse nur noch
"eine spezielle Form des Aberglaubens", weil die komplexen Konzepte der
Psychoanalyse sich in wissenschaftlichen Tests genau so wenig verifizieren
lassen wie wir es von unserer Astrologie her ja kennen und wie es ja auch
für die Homöopathie gilt, um ein weiteres Beispiel zu nennen.
Wie die Entwicklung der Systemtheorie im Bereich der Biologie, aber auch
Entwicklungen wie die sog. "Fuzzy-Logik" zeigen, müssen wir vielleicht von
einem bisher für unverzichtbar gehaltenen wissenschaftlichen Ideal Abschied
nehmen, wenn wir komplexe Zusammenhänge beschreiben wollen: der
Eindeutigkeit. An genau diesem Ideal scheitern all die Studien zur
Astrologie, Psychoanalyse oder Homöopathie.
Selbstverständlich ist dieses Scheitern nicht der Grund, warum wir ein so
grundlegendes wissenschaftliches Ideal in Frage stellen - das würde ja
bedeuten, daß wir die Methoden so lange aufweichen bis wir die Ergebnisse
erzielen können, die wir suchen. Nein: In vielen Wissensbereichen zeigt
sich, daß hier ein wissenschaftliches Ideal an seine Grenzen stößt.
Schon immer gab es, neben der Wissenschaft, die "Wahrheit" sucht,
die Kunst, die die Menschen bewegt (und, so könnte man sagen, eine andere
Facette dessen, was Wahrheit bedeutet, sucht).
Wenn wir Astrologen Menschen nicht mehr "bewegen" können,
wird die Astrologie mit der Zeit ihre Anhänger verlieren, und sie wird aussterben,
wie schon so viele Vorstellungen und Überzeugungen der Menschen
"ausgestorben" sind, sich überlebt haben, darunter viele, die wir
"wissenschaftlich" nennen würden.
Aber die Astrologie "bewegt" die Menschen, Menschen aller
Schichten, immer wieder erneut. Das ist durchaus ein Argument, da sie es schon Tausende von
Jahren tut, viele sog. "abergläubische Systeme" aber gekommen und gegangen
sind. Astrologie blieb.
Könnte sie so beständig Menschen, auch kritische Menschen,
faszinieren, wenn sie nur ein Irrtum und nichts als ein Irrtum wäre?
Ich spreche hier keineswegs, wie man vermuten könnte, der Aufgabe aller
Kriterien der Unterscheidung von "wahr" und "unwahr", von "richtig" oder
"falsch" das Wort. Ein schlechtes Modell unterscheidet sich von einem guten
dadurch, daß die aus diesem Modell abgeleiteten Vorhersagen nicht
eintreffen. Ein "schlechtes" Kunstwerk unterscheidet sich von einem "guten"
nicht dadurch, daß es "falsch" ist (es gibt keine "falschen" Kunstwerke -
es gibt nur Fälschungen der Urheberschaft). Ich würde sagen: Ein
"schlechtes" Kunstwerk setzt sich auf Dauer zumindest nicht durch, weil es
die Menschen nicht "berührt", ihre Wahrheit, ihr Lebensgefühl nicht trifft.
Der Begriff "Wissenschaft" ist erst einige Jahrhunderte alt.
Der Begriff Kunst ist sehr viel älter und er kommt von Können.
Können hat immer auch etwas mit "Wahrheit" zu tun.
Nachdem die Wissenschaften, speziell die Naturwissenschaften, Jahrhunderte
lang ihre Hauptaufgabe darin sahen und ihre größten Erfolge damit hatten,
das Unbestimmte zu bestimmen, nachdem Jahrhunderte lang das Unbestimmte,
das Un-Wissen als Mangel (Defizienz), Fehler oder als etwas Vorläufiges
angesehen wurde, das durch weitere Forschung in Bestimmtheit, Sicherheit
und Wissen überführt würde, setzt sich auch in den Wissenschaften mehr und
mehr die Erkenntnis durch, daß Unbestimmheit ein Teil des Wesens
natürlicher Phänomene ist.
Sollten Sie mich fragen, was ich mit meinem Vortrag überhaupt sagen
wollte, dann kann ich Ihnen ehrlicherweise nur antworten: Nichts Bestimmtes!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
___________________________________
Copyright 1997 Dr. Peter Niehenke
Kritische Würdigung des Beitrags der Astrologie
Vortrag anläßlich des Jubiläumskongresses "50 Jahre DAV"
in Heidelberg unter dem Motto:
Astrologische Perspektiven für ein ganzheitliches Verstehen des Menschen
Wenn wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam.
Wir glauben, in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein,
und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen,
gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen
nicht mehr dem Meere, dem er entstammt.
Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben,
und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen,
haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht;
und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.
Sie kennen vermutlich alle das Gefühl, aus einem Traum aufzuwachen und
zu spüren, wie sich der Inhalt des Traumes Ihrem Zugriff entzieht. Nicht jeder
Traum ist so: Manche Träume sind beeindruckend "realistisch", auch wenn sie
selbst dann noch wie Filme wirken, bei denen die "Zensur" dazu führte, daß
nach dem Schneiden gewisse Brüche im Handlungsablauf vorhanden sind. Doch
es gibt Träume, da spürt man während des Erwachens, wie bei dem Versuch,
den Inhalt des Traumes festzuhalten, ihn ins Wachbewußtsein ...[TEXT-FEHLT]...
auch, weil es dafür keine Worte gibt. Wenn wir den Traum dann erzählen, spüren
wir deutlich, daß etwas fehlt. Selbst vieles von dem, was wir erinnern, können
wir nur unzulänglich in Worte fassen: eine Schwingung in uns, eine
Atmosphäre, ein bestimmter Geruch oder Geschmack, eine unwirklich klingende
Melodie. Sogar die konkret anmutenden Abläufe, das, was man als Handlung zu
erinnern meint, war im Traum nicht so platt, wie das, was wir nun in Worte
fassen können: die Handlung schien in unserem Gefühl von einer viel
größeren Bedeutungsdichte, jedes Traumelement schien auf so unendlich viel
zu verweisen.
Interessanterweise wird das, was wir nicht in Worte fassen können, mit der
Zeit blasser und zurück bleibt mehr und mehr eine Art Skelett, das zudem,
so ist meine Erfahrung, je öfter wir es erzählen, immer mehr von
Ungereimtheiten und logischen Brüchen gereinigt wird. Und meine Erfahrung
als Therapeut ist, daß meist erst in diesem Stadium für den Träumer so etwas
wie eine Bedeutung des Traumes zugänglich wird, daß er erst in diesem
Stadium beginnt, seinen Traum zu verstehen.
Aber was bedeutet es, einen Traum zu verstehen?
Meine sehr verehrten Damen und Herren
Liebe Kolleginnen und Kollegen
Ich kann Ihnen versichern: Ich weiß nicht, wovon ich rede - und das macht
die Sache auch für mich sehr spannend. Ich muß sogleich einen Satz
hinzufügen, da ich mit Ironie in meinen Vorträgen schlechte Erfahrungen
gemacht habe. Offensichtlich kennzeichne ich sie nicht deutlich genug. Aber
wie sollte ich auch, wo das Ironische doch fließend in das übergeht, das
ich wirklich meine.
Ich bin auf der Suche nach etwas. Ich möchte heute zu Ihnen über
etwas sprechen, daß ich nicht kenne (oder noch nicht kenne, vielleicht) und von
dem ich nicht weiß, ob es existiert: Es ist das, worauf wir uns beziehen,
wenn wir über Menschen sagen, wir verstehen sie. Nennen wir es: Das Wesen
des Menschen.
Ich wäre nicht so unbescheiden gewesen, mir für einen 40minütigen Vortrag
ein solches Ziel zu stecken, wenn das Motto dieses Kongresses und mein an
dieses Motto angelehnte Vortragsthema mich nicht dazu zwingen würden: Wie
soll ich den Beitrag der Astrologie zu einem ganzheitlichen Verständnis des
Menschen würdigen, wenn ich nicht weiß, was ich unter einem ganzheitlichen
Verständnis des Menschen verstehen soll?
Ja, in der Tat: Ich wollte anfangs einen vermutlich absolut langweiligen
Vortrag halten und der Astrologie eine Note geben (natürlich eine gute,
schließlich haben wir Jubiläum), eine Note für das, was sie Wertvolles
beiträgt zu einem ganzheitlichen Verständnis des Menschen. Am Anfang dachte
ich auch wirklich, ich wisse es (in etwa ...). Doch als ich zu formulieren
begann, wurde ich mehr und mehr zu einem Suchenden: Zusammenhänge, die mir
klar erschienen waren, wollten sich nicht in klare Sprache fügen. Was
sollte ich tun? Die Programmhefte waren gedruckt und mein Thema stand somit
fest.
Da der DAV jetzt immerhin 50 Jahre alt wird, und ich in zwei Jahren
ebenfalls 50 Jahre alt werde, und da ich ja auch nicht Vorsitzender des DAV
bin und somit der Pflicht, den DAV und die Astrologie vor Unbill zu
bewahren, nicht unterliege, entschied ich mich, in einer Art Experiment,
mich auf meine Unwissenheit einfach mal einzulassen. Mehr noch: Ich
entschied mich, Sie an meinen Gedanken teilhaben zu lassen, bevor sie
kristallisiert sind, wie das Skelett eines Traumes, meine Gedanken in einer
Form zu belassen, in der die logischen Brücken zwischen den einzelnen
Clustern noch brüchig sind und damit verräterisch , wie es Assoziationen
nun mal sind. Und ich entschied mich, mich Ihnen damit anzuvertrauen.
Am meisten Angst habe ich dabei, um ehrlich zu sein, vor Ihrer Zustimmung.
Warum? - Nun, ich will es am schlimmstmöglichen Fall demonstrieren:
"Endlich, Herr Niehenke, haben Sie eingesehen, daß Ihr
rational-wissenschaftlicher Zugang unangemessen ist."
Wir werden sehen.
Erlauben Sie mir, Ihnen zu Beginn einen unanständigen Witz zu
erzählen. Er wurde im Samstagsabend-Familien-Programm der ARD erzählt und soll von einem
12jährigen Jungen eingeschickt worden sein, und selbst Bayern hat sich
nicht aus dem gemeinsamen Programm der ARD ausgeklinkt, wie es das ja
zuweilen bei moralisch problematischen Sendungen zu tun pflegt: Ich meine,
daß der Witz daher als "unbedenklich" gelten kann. Sicherheitshalber möchte
ich auch den möglicherweise aufkommenden Verdacht zerstreuen, ich würde
diesen Witz nur erzählen, um Sie zu erheitern . Ich weise Sie deshalb
darauf hin, daß er ein grundlegendes erkenntnistheoretisches Problem
treffend veranschaulicht ...
Fritzchen geht mit seiner Mama am FKK-Strand spazieren.
"Mama", fragt er, "warum haben denn manche Frauen einen größeren Busen als
andere?"
"Je reicher eine Frau ist, um so größer ist der Busen", erklärt die Mama.
"Und warum haben manche Männer einen größeren Piepmatz als
andere?"
"Je schlauer ein Mann ist", erklärt die Mama, "um so größer ist ihr
Piepmatz."
Nach einer Weile kommt Fritzchen zur Mama gelaufen, die sich in der Sonne
räkelt, und berichtet ihr:
"Mama: Der Papa liegt da hinten mit einer ganz reichen Frau und wird immer
schlauer."
Es ist faszinierend zu beobachten, wie Kinder mit sog. Erklärungen
umgehen, also mit Antworten der Erwachsenen auf ihre Warum-Fragen.
"Papa", fragt der griechische Knabe seinen Vater, "woher
kommen die Blitze
bei einem Gewitter?"
"Das sind die Pfeile des Gottes Zeus", antwortet der Vater, "er wirft sie,
wenn er zornig ist." Und in aller Regel gibt sich der Knabe mit dieser
Antwort zufrieden und gibt sie später seinem Sohn weiter.
Dreitausend Jahre später antwortet ein Nachfahre auf die gleiche Frage
seines Sohnes:
"Das sind elektrische Entladungen, mein Junge. Du hast bestimmt schon
einmal Blitze an den Oberleitungen von Eisenbahnzügen oder Straßenbahnen
gesehen. Auch das sind elektrische Entladungen."
Auch hier gibt sich der Knabe vermutlich mit der Antwort zufrieden, obwohl
ich bezweifle, daß der Papa selbst in einem dieser beiden Fälle seine
eigene Erklärung verstanden hat. Mag sein, daß der Papa elektrische
Entladungen von seiner Arbeit her kennt, mag sein, daß er ihre Stärke sogar
berechnen kann, aber ob er versteht, was Elektrizität ist?
"Papa, warum haben manche Menschen so viel Glück im Leben und
warum geht es
anderen Menschen so schlecht?"
"Wenn jemand in seinem vorherigen Leben Böses getan hat, dann geht es ihm
in diesem Leben schlecht. Du kannst Dir das so vorstellen, daß er in seinem
letzten Leben Schulden gemacht hat, und die muß er in diesem Leben
abbezahlen."
Jesus soll gesagt haben: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder,
könnt ihr in das Himmelreich nicht eingehen. "
Wie wahr!
Was bedeutet es, etwas zu verstehen?
Obwohl es reizvoll für mich wäre, dieser Frage anhand meines
zuletzt gegebenen Beispiels einer "Erklärung" nachzugehen, werde ich dieser
Versuchung widerstehen, um der Gefahr eines zu großen Umwegs bei meiner
Suche nach dem "Wesen" des Menschen zu entgehen.
Nehmen wir also lieber ein anschaulicheres Beispiel. Es hat den Vorteil,
weniger Emotionen aufzurühren und weniger kontrovers zu sein. Das ist aber
leider auch sein Nachteil.
[Picture Atommodell] Das Bohr'sche Atommodell
Die Frage, woraus die materielle Welt im letzten denn nun bestehe, hat
nicht nur die Philosophen seit der Antike bewegt, sie bewegt, wie ich aus
eigener Erfahrung und auch Erinnerung weiß, schon manche Schulkinder. Sie
bewegte auch mich als 14jährigen Schüler sehr, der erstmals im
Chemieunterricht mit dem Periodischen System der Elemente und dem sog.
Bohr'schen Atommodell in Kontakt kam. Ich weiß noch sehr genau, wie ich
damals, sehr erregt, meinen Chemielehrer im Anschluß an die
Unterrichtsstunde fragte, woraus denn nun die Protonen und Elektronen
selbst bestehen würden, nachdem er uns erklärt hatte, daß alle Stoffe, die
wir kennen, aus Atomen und diese wiederum aus Protonen, Neutronen und
Elektronen bestünden. Die Frage war ja naheliegend. Mein Chemielehrer
damals konnte es mir aber dennoch nicht erklären: Er sagte, diese Teilchen
seien aus "Urstoff" (und ich spürte, daß da etwas nicht stimmen konnte).
Heute finden die Physiker immer mehr immer kleinere Teilchen, aus denen die
"kleinsten Teilchen" der Materie wiederum bestehen. Aber wie klein die
Teilchen auch immer werden: Auch sie müssen doch, so unsere Vorstellung,
aus irgendeinem Stoff bestehen. Alle Schüler, die darauf angewiesen sind,
sich etwas vorzustellen, die "Anschaulichkeit" benötigen, um etwas in sich
aufnehmen, etwas lernen zu können, kommen an dieser Stelle in große
Schwierigkeiten. Die Frage, aus welchem Stoff denn nun die wirklich
kleinsten Teilchen der Materie bestünden, läßt sich nämlich nicht
beantworten, weil sie, so merkwürdig dies jetzt klingen mag, von einer
falschen Voraussetzung ausgeht:
Sie geht von der Voraussetzung aus, daß Elementarteilchen "im
Kleinen" etwas Ähnliches sind wie vielleicht ein Sandkorn "im Großen", daß sie also
z. B. eine bestimmte Größe haben und sich an einem bestimmten Ort
aufhalten, wie dies für jedes materielle Objekt gilt. Tatsache aber ist,
daß im Bereich der Elementarteilchen die Vorstellung von einem begrenzten
Stück "Materie" an einem bestimmten "Ort" keinen Sinn macht.
Das macht sich in der Sprache der Physiker bemerkbar, die vom Elektron
sagen, seine Masse sei über seine ganze Bahn "verschmiert". (Das eine
Elektron ist also an allen Stellen seiner Bahn gleichzeitig.) Das macht in
unserer Vorstellung (von einem Materieteilchen) keinen Sinn.
Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir ein anderes Modell zur Hilfe nehmen:
Denken Sie einmal an eine Schallwelle. Die ist auch nicht an einem
bestimmten Ort sondern überall im Raum gleichzeitig. Ein Ton ist im ganzen
Raum. So oder so ähnlich ist das auch mit der Materie: Im "Größen"-bereich
der Elementarteilchen verhält sich Materie, als wäre sie etwas wie ein Ton,
genauer: wie eine Welle. (Eine Welle ist überall.)
Der Physiker spricht vom Welle-Teilchen-Dualismus der Materie und, analog
zu den Lichtwellen, von Materiewellen. Materie verhält sich eben zum einen
Teil so, als bestünde sie aus Teilchen (mit einer bestimmten Masse und
einem bestimmten Ort), zum anderen Teil (korrekterweise müßte man sagen: in
einer anderen Art von physikalischen Messungen bzw. Experimenten), als wäre
sie eine Wellenerscheinung.
Wenn Sie Materie immer weiter teilen, dann stoßen Sie also nicht auf
Atome, auch nicht auf Elementarteilchen, auch nicht auf den "Urstoff" meines
Chemielehrers: Sie stoßen auf etwas "Immaterielles", nämlich auf
elektromagnetische Schwingungen (Wärme, Licht, Röntgenstrahlen - je nach
Wellenlänge). Licht, also eine Welle, ist direkt in Materie verwandelbar:
Bestimmte Elementarteilchen können aus energiereicher Strahlung (wie Licht
eine ist) spontan "entstehen" und sich, umgekehrt, auch wieder in Licht
verwandeln .
Lassen Sie mich den Verfasser eines Physik-Lehrbuchs für Gymnasiasten,
Oskar Höfling, zitieren:
"Man vergaß, daß das anschauliche Bohr'sche Atommodell mit
seinen Elektronenbahnen nicht als ein Abbild der Wirklichkeit gewertet werden
durfte, sondern daß es sich um eine Gedankenkonstruktion der Physiker
handelte. Das Bohr'sche Atommodell erfreute sich besonderer Beliebtheit,
weil es dem menschlichen Bedürfnis nach Anschaulichkeit der
Modellvorstellungen von der Natur in hohem Maße gerecht wurde. Besonders
anschaulich erscheinen uns nämlich die Vorgänge der Mechanik. Die
Zurückführung aller Erscheinungen auf mechanische Modelle war das erstrebte
Endziel der klassischen physikalischen Forschung.
Wir haben früher darauf hingewiesen, daß die mechanischen
Modellbetrachtungen große Fortschritte für die Naturerkenntnis gebracht
haben. Wir haben aber auch erkannt, daß diese Modelle nicht das Wesen der
durch sie dargestellten Erscheinungen sind, sondern daß es sich um
Hilfsmittel handelt, die es erleichtern, gedankliche und rechnerische
Überlegungen anzustellen.
Am Beispiel des Lichts haben wir früher erkannt, daß es bisweilen
zur vollständigen Erfassung einer Erscheinung notwendig ist, nebeneinander
verschiedene Modelle (beim Licht: Welle und Teilchen) zu verwenden, die für
das menschliche Anschauungsvermögen nicht miteinander vereinbar sind. Wir
mußten uns mit der Tatsache abfinden, daß Licht weder einer Wellenbewegung
noch ein Strom von Teilchen ist, sondern etwas,
das sich der anschaulichen Beschreibung durch den menschlichen Geist
entzieht
und sich bisweilen so verhält wie eine Welle und ein anderes Mal wie ein
Teilchen."
Aus diesem Zitat wird deutlich, daß Physiker nicht angeben können,
was Materie ist. Sie machen sich möglichst anschauliche Modelle von Vorgängen
in der Natur, und solange die Meßergebnisse im Einklang mit diesen
Modellvorstellungen stehen, gilt dieses Modell vorläufig als "richtig".
Verzeihen Sie mir bitte, daß ich sie so lange mit Physik gelangweilt habe.
So abstrakt diese Gedanken für viele von Ihnen erscheinen mögen: Sie
sollten etwas noch viel Abstrakteres veranschaulichen:
Wenn wir etwas verstanden haben (ich sollte besser sagen: verstanden zu
haben meinen), dann ist das immer, wie jetzt vielleicht ein wenig deutlich
geworden ist, zugleich eine Erweiterung wie auch eine Verengung unserer
Horizonts. So paradox es klingt: Etwas zu verstehen verengt auch unseres
Horizont! Mit jedem Verstehen grenzen wir ein Phänomen immer auch ein (auf
das "Verstehbare", auf den heute und durch uns "verstehbaren Teil" des
Phänomens).
Viele von uns werfen den Wissenschaften gern vor, sie seien
"reduktionistisch" und wir stellen einem solch "reduktionistischen
Verständnis" des Menschen anläßlich dieses Kongresses ein "ganzheitliches
Verständnis" des Menschen gegenüber. Wir sehen dabei nicht:
Jedes "Verstehen" ist immer reduktionistisch.
Verzeihen Sie mir bitte diesen kleinen Gedankensprung, aber: vielleicht
wird auch Ihnen aus diesem Grunde das Gebot: "Du sollst Dir kein Bildnis
machen", verständlich.
"Ach wie schön, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstielzchen heiß!"
Ich möchte einen Satz von Höfling noch einmal wiederholen:
"Licht (und dies
gilt auch für Materie) ist etwas, das sich der anschaulichen Beschreibung
durch den menschlichen Geist entzieht."
Licht und Materie sind wirklich elementare Kategorien, nicht komplexe
selbstorganisierende Systeme, wie es jeder noch so einfache Organismus ist.
Dieses Elementarste des Elementaren unserer Erfahrung, "Stoff",
"Gegenständlichkeit", entzieht sich der anschaulichen Beschreibung durch
den menschlichen Geist.
Wie weit sind wir dann wohl davon entfernt, Leben zu verstehen und was
könnte es in einem solchen Fall bedeuten, den Menschen zu verstehen?
[Bild Horoskopzeichnung] Das Horoskop der Klientin
Die Frau, die da vor mir sitzt, wirkt, trotz ihrer 41 Jahre, zart und
mädchenhaft. Ihr dünnes, dunkles Haar geht ihr knapp bis zu den Schultern.
Ihre Kleidung, von betont einfacher Eleganz und in dezenten Farben,
umstreicht wirkungsvoll ihre mädchenhafte Erscheinung. Ihre grün-braunen
Augen sehen mich freundlich an und sie spricht mit zarter Stimme - und sie
stimmt mir verdächtig oft einfach zu ...
Die meisten meiner Klienten setzen sich auf den langen Teil der Sitzecke in
meinem Praxisraum, dem schwebend leicht wirkenden Ledersessel direkt
gegenüber, den sie für den meinen halten. Obwohl ich den Klienten freie
Wahl des Sitzplatzes lasse, wenn ich sie hineinführe in den Praxisraum,
wählen nur sehr wenige diesen bequemen Ledersessel. - Sie hat sich auf den
kurzen Teil der Sitzecke gesetzt und sitzt mir daher nicht gegenüber
sondern sitzt seitlich zu mir. Das paßt zu ihr.
Erste Evidenzerlebnisse: Aszendent und Mond im Wassermann und die Sonne in
der Waage kann ich gut mit ihr verbinden. Ich habe allerdings einige Mühe,
mit diesem zarten Wesen eine dominante Mond-Pluto-Opposition in Verbindung
zu bringen, und außerdem würde es mir leichter fallen, sie mir als
Augenärztin vorzustellen als ausgerechnet als Fachärztin für Psychiatrie.
Ich bin ja selbst Psychotherapeut und zu meiner Ausbildung gehörten
Praktika in therapeutisch relevanten Institutionen. Ich habe, um ehrlich zu
sein, ein Praktikum in der Psychiatrie immer vermieden. Sie erläutert mir,
daß sie niemals in einer freien Praxis arbeiten könne, wie ich das tue, da
die lächerlichen Probleme der üblichen Neurotiker sie einfach langweilen
würden. Ich verstehe ...
Erlauben Sie mir, verehrte Hörerinnen und Hörer, Ihnen einen
kurzen Ausschnitt aus dem Beratungsgespräch zu zitieren. Ich sollte noch erwähnen,
daß die Klientin mich gebeten hatte, die Konstellationen explizit zu
nennen, auf die ich mich beziehe, damit sie später, wenn sie mal mehr von
der Astrologie verstehen sollte, meine Deutungen nachvollziehen könne. Es
ist eigentlich nicht meine Art, Klienten mit Fachchinesisch zu langweilen
oder zu verwirren, wie es in diesem Ausschnitt aber den Anschein haben
könnte. - Der Gesprächsausschnitt ist übrigens mitten aus der beinahe
dreistündigen Sitzung herausgegriffen:
"Sie haben eine Konjunktion von Saturn und Venus - und dazu fallen mir
Begriffspaare ein wie traurig-schön oder schön-traurig, aber, da diese
Konjunktion sich in Ihrem 8. Feld befindet, auch schauderhaft-schön oder
eben, schön-schauderhaft. Ich denke, da gibt es so eine Mischung: irgendwie
ist das Grauen, oder was andere als Grauen empfinden, das ist irgendwie
auch mit Lust verknüpft."
Sie schaut mich fragend an. - Also formuliere ich es auf andere Weise:
"Sie suchen die Konfrontation mit dem, was andere Menschen schaudern
läßt.
- Es ist zwar auch für Sie schaudern, aber es ist nicht unlustbetont . Der
Schauder - und vielleicht sogar dieses Schaudern angesichts ... des Todes -
der hat einen angenehmen Aspekt für Sie."
Diese Formulierung greift besser: "Ja", sagt sie, "der hat etwas
Ästhetisches, Intensität und Ästhetik."
"Ja, genau, das dachte ich", antworte ich, "Und dann dachte ich:
Ja, aber der Saturn bedeutet auch Angst - besonders mit diesem Quadrat zu Mars. Ich
denke, daß sie den Tod einerseits als im Einklang mit der Natur erleben,
andererseits aber haben Sie auch Angst: Angst vor der Hingabe. Vor der
Hingabe an den Tod und an das Leben, also an beides. In anderen Worten: Sie
sehnen sich (mit Sonne - Neptun) zwar nach Verschmelzung mit der Natur, mit
dem Kosmos - aber nicht mit Menschen. Sie haben Angst vor der Verschmelzung
mit einem Menschen."
"Ja, wo es mir zu konkret wird", antwortet sie.
Ich versuche, die Thematik weiterzutreiben und noch etwas zu vertiefen:
"Ich habe so das Gefühl, die Venus im 8. Feld, das ist die Lust daran,
total zu verschmelzen und der Saturn wird gleichzeitig wach mit seiner
warnenden Stimme - und so könnte ich mir vorstellen, daß Sie konkret schon
durch die Partnerwahl sicherstellen, daß diese Verschmelzung nie total sein
kann. Sie bauen sozusagen eine Notbremse schon von vornherein ein und dann,
sozusagen mit doppeltem Boden, dann lassen Sie sich fallen in diese
Verschmelzung. Sie sind ja, wie Sie im Vorgespräch sagten, sehr
leidenschaftlich dann, aber dieses Fallen - dieses Fallen geschieht mit dem
Hintergedanken: da ist ein Netz, und wenn ich es nicht schaffen sollte zu
stoppen, dann falle ich nie ganz durch."
"Ja, das fängt mich auf", sagt sie, "das ist so eine Art
Sicherheit."
"Ich habe so das Gefühl", ergänze ich noch, "das
ist so eine unbewußte
Kontrolle dagegen, daß Sie sich dabei verlieren könnten."
Sie nickt.
"Sehen Sie", erläutere ich nun, "so schaffen Sie dann
beides: Sie machen so eine zeitlich befristete Verschmelzung. Sie sind so wie jemand, der einen
Kuchen in den Ofen schiebt und die Uhr stellt, und sie wissen: irgendwann
ist die vorgegebene Zeit zuende und dann stellt sich das Ding automatisch
ab. - Sie bauen so eine Art Zeitschaltuhr ein durch die Art der Wahl Ihrer
Partner, indem Sie z. B. verheiratete Männer wählen. Sie stellen auf diese
Weise sicher, daß ein solcher Mann gar nicht die Möglichkeit hat, auf Dauer
mit Ihnen zu verschmelzen, und so haben Sie eine Mischung : Sie haben eine
temporäre Verschmelzung mit Rückversicherung, Rückversicherung, daß es ein
Ende hat."
Sie stimmt zu.
"Aber Sie wollen auf das Erlebnis des Verschmelzens auch nicht verzichten.
Und ich frage mich: Was ist denn das, wovor Sie dabei Angst haben? Da es
eine Jungfrau-Venus ist, dachte ich: Es ist die Angst vor Kontrollverlust.
Sie wollen die Kontrolle nicht verlieren. - Das würde auch zu dem Quadrat
von Mars und Saturn passen."
Sie nickt erneut und ich fahre fort:
"Ich dachte noch einmal an die Psychiatrie, bei dieser
Venus-Saturn-Geschichte: Ich habe gedacht, daß Sie vielleicht bei Verfall -
vielleicht in der Natur - daß Sie in Verfallserscheinungen auch Schönheit
sehen können, daß bestimmte Bilder von Verfall (vielleicht verfallenen
Burgen oder verfallenen Räumen oder Verfallsstrukturen), daß Verfall also
etwas sein kann, dem Sie eine Ästhetik abgewinnen können."
Sie nickt, aber Ihre Zustimmung genügt mir in diesem Fall nicht. Es ist mir
zu abstrakt, was ich da gesagt habe - und ich will mich rückversichern,
weil die Klientin einfach zu viel zustimmt. Ich frage also:
"Wie äußert sich das denn bei Ihnen? Wo konkretisiert es sich?
Sind es mehr Naturverfallserscheinungen oder bezieht es sich auch auf Bauwerke? Was
spricht sie besonders an? Vielleicht auch Verfall bei Menschen? Ich hatte
so gedacht: Immerhin arbeiten Sie in der Psychiatrie?"
Und dann kommt einer der Momente in Beratungen, die mich immer wieder
erneut tief bewegen: Wenn eine Deutung, deren Zutreffen nicht direkt zu
erwarten war, auf solche Zustimmung trifft.
"Überall, überall", sagt sie. "Ich mache sehr gerne
Geronto-Psychiatrie,
also ich mag sehr gerne alte Menschen, bei denen man so sehen kann, wie die
Zeit ihre Spuren hinterlassen hat."
"So hatte ich es gemeint", falle ich ihr ins Wort, und kann den Anflug
von Begeisterung nicht verbergen, "das ist so eine Sensibilität für diese - wie
soll ich es nur ausdrücken? ... für diese eigenartige Ästhetik des
Verwelkens."
"Ich finde das ganz toll , wie Sie das ausdrücken", sagt sie
anerkennend, "ja, das andere langweilt mich eher."
"Ja", versuche ich zu konkretisieren, "wenn es so ganz glatt, so
einfach
nur schön, jugendlich frisch ist."
"Ja", sagt sie, "das ist noch gar kein Leben, da ist noch nichts
Besonderes drin, nichts gewachsen."
"Merkwürdig", werde ich nun nachdenklich, "Leben
kommt für Sie in die Sache
eigentlich erst durch den Hauch des Todes."
"...Ja", stimmt sie zögernd zu, "obwohl es mir eigentlich
um die Auseinandersetzung geht, die jemand investiert hat. Das macht eigentlich
den Wert aus."
"Ich finde das jetzt ganz spannend", sage ich. "Ich höre
Ihnen so zu, wie Sie diese Formulierung "Hauch des Todes" etwas relativieren, und denke bei
mir: Es spricht eben immer der ganze Mensch. Sie hätten das vermutlich
anders formuliert, wenn Sie nur diese Venus-Saturn-Konjunktion im achten
Feld hätten, aber Sie haben es eben mit Ihrem Jupiter am Aszendenten
formuliert. Sie bringen damit so etwas Schützehaftes hinein, etwas im
Zusammenhang mit Werten. Sie geben dem sofort auch eine "Bedeutung", so
eine Lebensbedeutung - mir fällt jetzt nicht die wirkliche treffende
Formulierung ein: vielleicht 'vitale Bedeutung', ja, jetzt hab ich es: Eine
vitale Bedeutung. Es ist fast so, wie wenn Sie den Tod vitalisieren würden.
Wie wenn Sie sagen würden: Der Tod ist eine Lebenskraft. - Auf jeden Fall
etwas Paradoxes, eine paradoxe Formulierung, so empfinde ich das."
"So empfinde ich auch den Tod", sagt die Klientin zustimmend.
"Ja, genau. Da spüre ich jetzt dieses Trigon von dem Saturn in 8 zu
Jupiter
am Schütze-Aszendenten: der Tod bringt Sinn ins Leben."
"Ja", stimmt sie entschieden zu, "das ist richtig. Ohne den Tod
ist überhaupt kein Sinn im Leben."
Welch ein Satz.
Es ist ein immer wieder tief bewegendes Erlebnis, wenn ein Klient sich in
unseren Beschreibungen, die wir aus seinem Geburtsbild ableiten, erkennt,
wenn er uns deutlich macht, daß er sich in seinem Wesen (zumindest in
bedeutsamen Facetten dieses Wesens) verstanden fühlt.
Sie können daher sicher meine Scheu nachfühlen, mich diesem
berührenden Erlebnis mit dem kühlen Instrumentarium des analysierenden Verstandes zu
nähern. Es ist aber, wie auch im Falle der therapeutischen Arbeit mit einem
Traum, wichtig, sich immer wieder erneut daran zu erinnern, daß nicht nur
die Wahrnehmung (im Sinne von Bewußt-Machung) eines Traumes , sondern das
jede Wahrnehmung nur durch Weglassen, durch "Filtern", durch Konzentration
auf "Typisches" möglich ist. Wie wollten Sie sonst in einem Gewirr von
Stimmen auf einer Party die Stimme Ihres Gesprächspartners verstehen. -
Meine Scheu darf mich also nicht daran hindern, mir bewußt zu machen, was
in der Interaktion zwischen mir und meiner Klientin passiert ist.
Ich frage mich also: Was ist eigentlich in diesem bewegenden Ausschnitt aus
einem meiner Beratungsgespräche anderes passiert, als daß ich der Klientin
gesagt habe: "Sie haben eine große Nase!" und die Klientin ihre Nase fühlte
und geantwortet hat: "In der Tat: Ich habe eine große Nase!" Dabei will ich
einmal dahingestellt sein lassen, ob meine Möglichkeiten als Astrologe,
festzustellen, von welcher Form ihre Nase ist, verläßlich sind: In diesem
Vortrag von mir geht es ausnahmsweise ja nicht um die Frage, ob man die
Richtigkeit der astrologischen Regeln beweisen kann, sondern um die Frage,
ob Astrologie eine Hilfe sein kann, sich selbst besser zu verstehen oder
gar "das Wesen des Menschen" allgemein umfassender (ganzheitlicher) zu
verstehen.
Ich habe der Klientin doch eigentlich nur Motive offengelegt, die sie als
die ihren erkannte (zumindest überwiegend), habe ihr bestimmte
Eigenschaften zugeschrieben, mit denen sie sich auch identifizieren konnte.
Ohne Zweifel: Es ist faszinierend, daß dies, abgeleitet aus ihrem
Geburtsbild, überhaupt möglich war. Und möglicherweise besteht ein großer
Teil der Faszination und Begeisterung unserer Klienten nicht so sehr darin,
was wir ihnen sagen, als darin, daß wir ihnen so etwas überhaupt auf der
Grundlage des Geburtsbildes sagen können.
Zuweilen habe ich bei Beratungen genau diesen Eindruck: Die Klienten haben
eine beinahe kindliche Freude, wenn ich ihnen ihr Wesen treffend beschreibe
- auch dann, wenn ich Ihnen gar nichts Neues sage, wenn sie das, was ich
sage, im Prinzip schon wußten. Sie freuen sich einfach darüber, daß es
funktioniert, darüber, daß Astrologie funktioniert.
Ostern 1984 stellte ich am zweiten Astrologie-Weltkongreß in Luzern Teile
der Resultate meiner Dissertation vor. Es waren im Sinne der Astrologie
vollständig negative Resultate. Zum Abschluß meines Vortrags formulierte
ich:
"Ich kann in jedem Fall in Zukunft nicht mehr sagen: "Menschen mit
Sonne-Saturn-Quadrat neigen zu Depressionen" - und ich kann eine ganze
Reihe anderer Sätze dieser Art, die zuhauf in astrologischen Lehrbüchern
stehen, nicht mehr sagen, zumindest nicht mehr mit Recht! Und wenn jemand
behauptet, er könne es noch mit Recht sagen, dann möchte ich gern erklärt
haben, mit welchem Recht, worauf er sich stützt. Und wenn er behauptet, es
sei halt seine Erfahrung, dann ist zu fragen, ob er diese Erfahrung auch
einer kritischen Überprüfung unterzogen hat und zu unterziehen in der Lage
ist. Andernfalls wird Astrologie zu einer Art Religion, zu einer Sache des
Glaubens! - Aber warum nicht!
Um die Astrologie und um ihren Fortbestand auch bei noch mehr negativen
Resultaten braucht man sich aber sicher keine Sorgen zu machen. Eine Welt,
in der Astrologie wahr ist, ist allemal eine schönere Welt als eine, in der
Astrologie nicht existiert. Und dieses Gefühl, sinnvoll in ein kosmisches
Ganzes eingebettet zu sein, vermittelt ein "himmlisches
Geborgenheitsgefühl" - und darauf zu verzichten, fällt sicher gerade uns
heutigen Menschen besonders schwer. Das Bedürfnis, daß Astrologie wahr sei,
ist also viel stärker als alle rationalen Gegenbeweise, dessen bin ich
sicher - und das gilt, mindestens im Moment, auch für mich!"
Diese Sätze habe ich damals sehr ironisch (natürlich vor allem auch
selbstironisch) gemeint - aber, wie ich zu Beginn schon sagte: Ich habe
keine guten Erfahrungen mit Ironie in meinen Vorträgen. Am folgenden Tag
las ich in einer Schweizer Zeitung sinngemäß: "Und so tröstet sich Herr
Niehenke, Präsident des Deutschen Astrologen-Verbandes, über die negativen
Resultate astrologischer Studien hinweg."
Damals konnte ich diese Sätze mit Ironie sagen, weil ich gar nicht absehen
konnte, wie wahr sie sind. Wenn ich die Freude meiner Klienten und meine
eigene Freude sehe, unser gemeinsames Staunen, dann ist mir nicht mehr nach
Ironie.
Ich erinnere mich noch an die ungeheure Faszination, die die Gedanken
Sigmund Freuds in den 50er und 60er Jahren speziell bei den sog.
Intellektuellen auslöste. Ich denke, daß eine Quelle dieser Faszination
war, daß Freud ein Modell anbot, uns in unseren Motiven, emotionalen
Reaktionen und unseren Träumen zu verstehen.
Viele akademischen Psychologen sehen heute in der Psychoanalyse nur noch
"eine spezielle Form des Aberglaubens", weil die komplexen Konzepte der
Psychoanalyse sich in wissenschaftlichen Tests genau so wenig verifizieren
lassen wie wir es von unserer Astrologie her ja kennen und wie es ja auch
für die Homöopathie gilt, um ein weiteres Beispiel zu nennen.
Wie die Entwicklung der Systemtheorie im Bereich der Biologie, aber auch
Entwicklungen wie die sog. "Fuzzy-Logik" zeigen, müssen wir vielleicht von
einem bisher für unverzichtbar gehaltenen wissenschaftlichen Ideal Abschied
nehmen, wenn wir komplexe Zusammenhänge beschreiben wollen: der
Eindeutigkeit. An genau diesem Ideal scheitern all die Studien zur
Astrologie, Psychoanalyse oder Homöopathie.
Selbstverständlich ist dieses Scheitern nicht der Grund, warum wir ein so
grundlegendes wissenschaftliches Ideal in Frage stellen - das würde ja
bedeuten, daß wir die Methoden so lange aufweichen bis wir die Ergebnisse
erzielen können, die wir suchen. Nein: In vielen Wissensbereichen zeigt
sich, daß hier ein wissenschaftliches Ideal an seine Grenzen stößt.
Schon immer gab es, neben der Wissenschaft, die "Wahrheit" sucht,
die Kunst, die die Menschen bewegt (und, so könnte man sagen, eine andere
Facette dessen, was Wahrheit bedeutet, sucht).
Wenn wir Astrologen Menschen nicht mehr "bewegen" können,
wird die Astrologie mit der Zeit ihre Anhänger verlieren, und sie wird aussterben,
wie schon so viele Vorstellungen und Überzeugungen der Menschen
"ausgestorben" sind, sich überlebt haben, darunter viele, die wir
"wissenschaftlich" nennen würden.
Aber die Astrologie "bewegt" die Menschen, Menschen aller
Schichten, immer wieder erneut. Das ist durchaus ein Argument, da sie es schon Tausende von
Jahren tut, viele sog. "abergläubische Systeme" aber gekommen und gegangen
sind. Astrologie blieb.
Könnte sie so beständig Menschen, auch kritische Menschen,
faszinieren, wenn sie nur ein Irrtum und nichts als ein Irrtum wäre?
Ich spreche hier keineswegs, wie man vermuten könnte, der Aufgabe aller
Kriterien der Unterscheidung von "wahr" und "unwahr", von "richtig" oder
"falsch" das Wort. Ein schlechtes Modell unterscheidet sich von einem guten
dadurch, daß die aus diesem Modell abgeleiteten Vorhersagen nicht
eintreffen. Ein "schlechtes" Kunstwerk unterscheidet sich von einem "guten"
nicht dadurch, daß es "falsch" ist (es gibt keine "falschen" Kunstwerke -
es gibt nur Fälschungen der Urheberschaft). Ich würde sagen: Ein
"schlechtes" Kunstwerk setzt sich auf Dauer zumindest nicht durch, weil es
die Menschen nicht "berührt", ihre Wahrheit, ihr Lebensgefühl nicht trifft.
Der Begriff "Wissenschaft" ist erst einige Jahrhunderte alt.
Der Begriff Kunst ist sehr viel älter und er kommt von Können.
Können hat immer auch etwas mit "Wahrheit" zu tun.
Nachdem die Wissenschaften, speziell die Naturwissenschaften, Jahrhunderte
lang ihre Hauptaufgabe darin sahen und ihre größten Erfolge damit hatten,
das Unbestimmte zu bestimmen, nachdem Jahrhunderte lang das Unbestimmte,
das Un-Wissen als Mangel (Defizienz), Fehler oder als etwas Vorläufiges
angesehen wurde, das durch weitere Forschung in Bestimmtheit, Sicherheit
und Wissen überführt würde, setzt sich auch in den Wissenschaften mehr und
mehr die Erkenntnis durch, daß Unbestimmheit ein Teil des Wesens
natürlicher Phänomene ist.
Sollten Sie mich fragen, was ich mit meinem Vortrag überhaupt sagen
wollte, dann kann ich Ihnen ehrlicherweise nur antworten: Nichts Bestimmtes!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Copyright 1997 Dr. Peter Niehenke